Kapitel 2: „Ausserordentlich freut mich aber, dass ich zum ersten Mal in der Geschichte der Eidgenossenschaft Damen als gleichberechtigte Mitglieder dieses Parlamentes begrüssen darf. Nach langem Kampf und verschiedenen Anläufen ist es nun endlich soweit. Wir alle freuen uns darüber und heissen daher unsere Kolleginnen besonders herzlich willkommen.“ (William Vontobel Nationalratspräsident 1971-72)
9. Februar 1971: Die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen auf Bundesebene wird mit 65.7% Ja-Stimmen in einer Volksabstimmung angenommen. Ein klares Ergebnis. Während es Männern schon seit 1848 erlaubt war, abzustimmen und zu wählen, dürfen es die Frauen 143 Jahre später nun auch zum allerersten Mal. Brigitte Cadosch, damals 31-jährig, erinnert sich zurück, wie es für sie war, das erste Mal zu wählen.
Meine Grossmutter Brigitte Cadosch wurde am 9. November 1940 geboren und wuchs in Henau (SG) auf. 1962 heiratete sie und zog nach Lantsch/Lenz (GR), wo sie bis heute noch wohnt. Ich mochte es schon immer ihr zuzuhören, wenn sie Geschichten von früher erzählte. Daher war es für mich klar, dass ich von ihr hören wollte, wie es war, in der damaligen Zeit als Frau zu leben.

Doch wieso wurde genau 1971 darüber abgestimmt?
Nebst den jahrelangen Versuchen und Kämpfen das Frauenstimm- und Wahlrecht zu bekommen, spielt viel mehr die Europäische Menschenrechtskonvention eine Rolle. In den 70er Jahren möchte der Bundesrat eben diese Konvention unterzeichnen, jedoch unter der Bedingung, dass die Schweiz als einziges Mitglied kein Frauenstimmrecht besitzt. Die Empörung und der Widerstand ist gross, besonders seitens der Frauenorganisationen. Daraufhin beschliesst der Bundesrat, am 9. Februar 1971 die zweite eidgenössische Abstimmung über das Frauenstimm- und Wahlrecht durchzuführen.

5. März 1972: Graubünden nimmt als fünftletzter Kanton das Frauenstimm- und Wahlrecht auf Kantonsebene an.
1968-1983: Über einen Zeitraum von 15 Jahren führen nach und nach immer mehr Gemeinden Graubündens das Frauenstimm- und Wahlrecht auf Gemeindesebene ein. Auffällig ist dabei einzig, dass Gemeinden mit über 5000 Einwohnern das Recht relativ früh (1968-1971) einführen. Dies lässt sich einerseits damit erklären, dass in kleinen Gemeinden oft nur wenige Stimmen über Annahme oder Ablehnung entschieden. Andererseits war es für Frauen in kleinen Gemeinden, noch schwieriger öffentlich auftreten zu können und somit zu lernen, ihre Meinung öffentlich zu äussern. In einigen Gemeinden könnte die Einführung wohl auch ähnlich stattgefunden haben, wie in der Kirchgemeinde in Lantsch/Lenz:
27. Februar 1983: In Graubünden wird über eine Vorlage abgestimmt, welche dem Prozess der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts auf allen Ebenen endlich ein Ende setzen soll. In der Vorlage geht es um die Senkung des Alters von Stimmberechtigten auf 18 Jahre. Aber die Vorlage fordert auch das kommunale Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Denn in rund 13 Gemeinden Graubündens wird den Frauen das Stimm- und Wahlrecht auf Gemeindesebene immer noch verwehrt. Durch die Annahme der Vorlage mit 63% Ja-Stimmen wurden dann auch die letzten Gemeinden dazu gezwungen, das Frauenstimm- und Wahlrecht einzuführen.

1968: Chur, Landarenca, Marmorera, Pontresina
1970: Davos, Igis
1971: St. Moritz, Domat/Ems
1983: Sur, Jenins, Says, Scheid, Maladers, Schmitten, Castrisch, Stierva, Buseno, Versam, Saas, Morissen, St. Antönien, Tenna, Bivio, Rona (nun Tinizong-Rona), Salouf
Die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts auf allen drei Ebenen war in Graubünden ein langwieriger Prozess. Noch viel langwieriger war jedoch der Weg bis überhaupt über eine Einführung diskutiert und abgestimmt wurde. Doch wieso besassen die Frauen in der Schweiz nicht wie die Männer von Anfang an das Stimm- und Wahlrecht? Um diese und noch weitere Fragen beantworten zu können, führt uns unsere Reise noch weiter in die Vergangenheit. Im nächsten Kapitel befinden wir uns inmitten der Unruhen der beiden Weltkriege und des Landesstreiks 1918. Hat zu solch turbulenten Zeiten die Frage des Frauenstimm- und Wahlrechts überhaupt einen Platz in der Politik und der Gesellschaft?